Zusammenfassung
Das spastische Syndrom ist eine häufige Komplikation nach ZNS-Schädigung. Infolge einer Läsion absteigender motorischer Bahnen in Großhirn, Hirnstamm oder Rückenmark kommt es häufig zunächst zu einer schlaffen Parese, die im Verlauf durch neurogene und nicht-neurogene Vorgänge eine spastische Komponente erhält. Die Spastik ist definiert als eine geschwindigkeitsabhängige Erhöhung des Muskeltonus und zeigt sich in Form eines federnden Widerstands bei passiver Dehnung der Skelettmuskulatur. Sie tritt meist mit weiteren Zeichen einer zentralen Lähmung wie gesteigerten Muskeleigenreflexen und positiven Pyramidenbahnzeichen auf. Läsionen der motorischen Bahnen kommen bei vielen neurologischen Krankheiten (bspw. Schlaganfall, Multiple Sklerose, Rückenmarksläsion) vor, weshalb die Spastik ein häufiges Symptom ist. Die Therapie ist multimodal und richtet sich nach Ausprägung, funktionellen Zielen und Ätiologie. Sie umfasst nicht-medikamentöse Verfahren (bspw. Physiotherapie, Einsatz von Hilfsmitteln) sowie medikamentöse Optionen (bspw. orale Antispastika, die Injektion von Botulinumtoxin A, intrathekale Baclofen-Pumpen) und chirurgische Eingriffe.
Epidemiologie
- Prävalenz bei/nach häufigen neurologischen Erkrankungen (Auswahl) [1]
- Schlaganfall: Insg. bei etwa ⅓ der Betroffenen in der chronischen Phase
- Behindernde oder schwere Spastik: Bei knapp 10% aller Schlaganfallpatient:innen
- Ca. ⅓ mit Beinspastik
- Multiple Sklerose
- Bei bis zu 80% der Betroffenen im Verlauf der Erkrankung [2]
- ½–⅔ mit Beinspastik
- Zerebralparese: ¾ mit Beinspastik
- Schädel-Hirn-Trauma: ⅛ mit Beinspastik
- Schlaganfall: Insg. bei etwa ⅓ der Betroffenen in der chronischen Phase
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Grunderkrankungen, die häufig mit einem spastischen Syndrom assoziiert sind [1]
Pathophysiologie
- Primärer neurogener Pathomechanismus: Läsion absteigender motorischer ZNS-Bahnen [1]
- Pyramidenbahnläsion führt zu einer (zunächst schlaffen) Lähmung
- Im Verlauf (bis mehrere Monate nach Läsion): Die Läsion extrapyramidaler absteigender Bahnen hebt die hemmende Wirkung auf spinale Reflexe auf → Übererregbarkeit von α-Motoneuronen mit erhöhter Reflexantwort und gesteigertem Muskeltonus
- Sekundäre nicht-neurogene Pathomechanismen: Im Verlauf (Wochen bis Monate) entstehende strukturelle Veränderungen von Muskeln und Bindegewebe durch die Spastik, die die Bewegungseinschränkung weiter verstärken [1]
- Bspw. Entstehung von Weichteilkontrakturen und Erhöhung der Viskosität des Muskels (spastische Myopathie)
Symptomatik
Spastisches Syndrom (Pyramidenbahnsyndrom, Upper Motor Neuron Syndrome) [1]
- Positivsymptome (spastische Bewegungsstörung, Spastizität)
- Spastik
- Erhöhter Widerstand bei passiver Dehnung der Skelettmuskulatur (erhöhter Muskeltonus)
- Geschwindigkeits- und beschleunigungsabhängig
- Spastische Dystonie: Spontane unwillkürliche Muskelhyperaktivität in den Antagonisten , oft schmerzhaft
- Spasmen (meist kurz anhaltende, komplexe Bewegungen)
- Hyperreflexie, auch mit kloniformen Muskeleigenreflexen
- Spastik
- Negativsymptome
- Paresen bzw. Plegien
- Verstärkte Ermüdbarkeit der betroffenen Muskulatur
- Störung der Feinmotorik
- Koordinationsstörungen
- Assoziierte Symptome
Verteilungsmuster einer Spastik [1]
- Fokale Spastik: Betrifft ein bis zwei benachbarte Bewegungssegmente
- Bspw. spastische Zehen und Pes equinus
- Segmentale Spastik: Betrifft eine Extremität mit mehreren benachbarten Bewegungssegmenten
- Bspw. Pes equinovarus mit Knie- und Hüftbeugehaltung
- Multisegmentale Spastik: Betrifft zwei Extremitäten oder eine Extremität samt Rumpf
- Paraspastik: Vollständige (spastische Diplegie) oder unvollständige (spastische Diparese) spastische Lähmung beider Beine
- Hemispastik: Vollständige (spastische Hemiplegie) oder unvollständige (spastische Hemiparese) spastische Lähmung der Extremitäten einer Körperhälfte
- Generalisierte Spastik: Betrifft mehr als zwei Extremitäten und den Rumpf
- Tetraspastik: Vollständige (spastische Tetraplegie) oder unvollständige (spastische Tetraparese) spastische Lähmung aller Extremitäten
Diagnostik
Anamnese [1]
- Erfassen der Symptomatik, insb.
- Bewegungsstörungen, -einschränkungen
- Nicht-neurologische Begleitsymptome, insb. Spastik-bezogene Schmerzen
- Mögliche Spastik-Trigger
- Auswirkungen im Alltag
- Hinweise auf ursächliche Erkrankung (falls unbekannt)
Spastik-Trigger [1]
- Beschreibung: Faktoren, die zur Verstärkung spastischer Symptome oder zur Auslösung von Spasmen führen können
- Beispiele
- Immobilität
- Schmerzen
- Emotionale Anspannung
- Entzündungen bzw. Infekte
- Stuhl- oder Harndrang
- Dekubitalulzera
- Thrombosen
- Frakturen
Neurologische Untersuchung [1]
- Untersuchung des Muskeltonus
- Typischer Befund: Geschwindigkeits- und beschleunigungsabhängig erhöhter Muskeltonus
- Oft mit Taschenmesser-Phänomen
- Erhebung des Verteilungsmusters der Spastik
- Quantifizierung mittels etablierter Skalen, insb.
- Ashworth-Skala
- Tardieu-Skala
- REsistance to PAssive Movement Scale (REPAS)
- Untersuchung der Muskelkraft und Einschätzung der Kraftgrade
- Prüfung der Muskeleigenreflexe
- Systematische Ganguntersuchung
- Bei Hemispastik: Zirkumduktion eines Beins (Wernicke-Mann-Gangbild)
- Bei Paraspastik: Zirkumduktion beider Beine
- Bei Spastik der Adduktoren beidseits: Scherengang
- Bewegungsumfang betroffener Gelenke
- Ggf. bestehende Muskel- und Weichteilverkürzung bis zu Kontrakturen
Erweiterte Diagnostik
- Bildgebung: CT- oder MRT-Diagnostik von Gehirn und Rückenmark
- Blutentnahme und Liquordiagnostik
- Molekulargenetische Untersuchung: Bei V.a. hereditäre spastische Syndrome [1]
Differenzialdiagnosen
- Rigor
- Paratonie
- Dystonie
- Siehe auch: Muskeltonus – Pathologische Befunde
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Behandlungsziele
- Prävention: Frühzeitige motorische Aktivierung nach ZNS-Läsion kann Ausprägung eines spastischen Syndroms reduzieren (geringe Evidenz) [1]
- Therapie: Individuell auf Förderung der Alltagskompetenzen und einschränkende Symptome fokussieren [1][3]
- Stärkung der Muskelkraft
- Reduktion der sekundär entstandenen Spastik, sofern förderlich
Nicht-medikamentöse Therapien beim spastischen Syndrom [1]
- Indikation: Evidenz hauptsächlich für Grunderkrankung Hirninfarkt bzw. Hirnblutung vorhanden
- Physio- und Ergotherapie
- Trainingstherapien , bspw.
- Arm-Basis-Training
- Constraint-Induced Movement Therapy (CIMT)
- Geräte-unterstützte aktive und passive Therapien [1]
- Lagerungsschienen: Lagerung in max. tolerierbarer/schmerzfreier Dehnung des Muskels
- Casting (serielle Gipsverbände): Bei funktionsrelevanten Kontrakturen empfohlen
- Kinesiotaping
- Trainingstherapien , bspw.
- Physikalische Therapien: Bspw. Elektrostimulationstherapien wie TENS und die extrakorporale Stoßwellentherapie
Medikamentöse Therapie mit Antispastika
Orale Antispastika [1]
- Indikation
- Zu beachten
- Heterogene Evidenz für Wirksamkeit
- Geringe therapeutische Breite, aber oft hohe Dosierungen nötig (individuell große Unterschiede)
- Einschleichende Dosierung
- Häufig Kombinationen verschiedener Wirkstoffe üblich (insb. bei spinaler Spastik)
- Medikamentenwahl abhängig von Lokalisation der Spastik sowie von Wirkungs- und Nebenwirkungsprofil
- Allgemeine Nebenwirkungen (oft dosisabhängig)
- Reduktion der Muskelkraft
- Antriebsstörung
- Sedierung
- Bei vorhandener ZNS-Schädigung häufig kognitive Verschlechterung
Orale Antispastika - Wirkstoffe [1] | |
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Wirkstoff | Zu beachten |
Baclofen |
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Tizanidin |
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Dantrolen |
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Tolperison |
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Nabiximols |
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Benzodiazepine | |
Gabapentin |
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Wegen häufiger Nebenwirkungen ist eine kritische Indikationsstellung bei oralen Antispastika besonders wichtig! [1]
Lokale Injektionstherapie mit Botulinumtoxin A (BoNT A) [1]
- Indikationen (Off-Label Use)
- Zu beachten
- Zulassungsbeschränkungen: Anwendungsgebiet je nach BoNT-A-Präparat unterschiedlich
- Bei Wirkverlust Entwicklung neutralisierender Antikörper prüfen
- Adjuvante Therapien: Kombinationstherapie mit nicht-medikamentösen Verfahren sinnvoll
- Lokale Nebenwirkungen: Paresen, Hämatome und Schmerzen an Injektionsstelle
- Durchführung
- Analyse des Spastikmusters und der beteiligten Muskeln
- Berechnung der notwendigen Dosis
- Injektion in den Zielmuskel unter Ultraschall-, Elektrostimulations- oder EMG-Kontrolle
- Wiederholung i.d.R. alle 3 Monate
Intrathekale Baclofen-Therapie [1]
- Indikation
- Schwere multisegmentale oder generalisierte (insb. spinale) Spastizität mit alltagsrelevanter Behinderung oder drohenden Komplikationen und
- Ungenügende Therapiekontrolle der Spastizität trotz adäquater anderer Therapien
- Zu beachten
- Therapiebeginn (Testung und Dosisfindung) nur in erfahrenen Teams empfohlen aufgrund des erhöhten Risikos schwerer Nebenwirkungen durch Komplikationen des Pumpsystems
- Therapiebeginn unter engmaschiger Kontrolle der Vitalparameter
- Prinzip
- Zunächst Wirksamkeitstestung mit getunneltem spinalem Katheter und externer Pumpe
- Falls positiv: Implantation eines Dauerkatheters mit intrakorporal liegender Pumpe
- Einschluss in therapiebegleitendes Langzeit-Versorgungsprogramm
Chirurgische Verfahren [1]
- Indikation: Erwägen bei konservativ nicht-ausreichend behandelbaren spastischen Syndromen, um Fehlhaltungen, Pflegehemmnisse und andere Komplikationen zu vermeiden oder motorische Funktionen zu verbessern
- Verfahren: Bspw. Muskelansatzlösungen, Sehnenverlängerungen, Muskeltranspositionen und selektive Neurotomien
Besondere Patientengruppen
- Für Details der antispastischen Therapie siehe:
- Bei Multipler Sklerose: Symptomatische Therapie der Multiplen Sklerose
- Bei Zerebralparese: Zerebralparese - Therapie
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- G95.-: Sonstige Krankheiten des Rückenmarks
- Exklusive: Myelitis (G04.‑)
- G95.8-: Sonstige näher bezeichnete Krankheiten des Rückenmarks
-
Myelopathie durch:
- Arzneimittel
- Strahlenwirkung
- Rückenmarksblase o.n.A.
- G95.83: Spinale Spastik der quergestreiften Muskulatur
-
Myelopathie durch:
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.