Zusammenfassung
Die Chorea Huntington ist eine neurodegenerative Erkrankung, die durch extrapyramidal-motorische Störungen (Hyperkinesien) und psychische sowie kognitive Probleme gekennzeichnet ist. Die Erkrankung gehört zu den Trinukleotid-Erkrankungen, wobei eine Mutation zur vermehrten Wiederholung des Basentripletts CAG im Huntingtin-Gen führt. Die Folge ist ein stetig zunehmender Neuronenuntergang, insb. in den Basalganglien. Das Erkrankungsalter ist von der Anzahl der Wiederholungen des Basentripletts abhängig, liegt aber typischerweise um das 40. Lebensjahr. Die Erkrankung wird autosomal-dominant vererbt.
Frühe Symptome sind psychiatrische Veränderungen, wie depressive Verstimmungen oder vermehrte Reizbarkeit. Im Verlauf kommt es zu den typischen choreatiformen Bewegungen mit plötzlich einschießenden Hyperkinesien des Gesichts und der distalen Extremitäten. In späten Stadien entwickelt sich meist eine zunehmende Demenz. Der Verdacht auf eine Chorea Huntington ergibt sich aus der typischen Klinik und einer positiven Familienanamnese, gesichert wird die Diagnose durch molekulargenetische Untersuchungen. Eine kausale Therapie der Erkrankung existiert bislang nicht.
Epidemiologie
Ätiologie
- Autosomal-dominante Trinukleotid-Repeat-Erkrankung : Vermehrte Wiederholung des Basentripletts CAG (Instabilität des CAG-Repeats)
- Ursache: Wahrscheinlich ist ein sog. „slippage“ (Verrutschen) der DNA-Polymerase bei der Replikation
- Penetranz: 100%ige Erkrankungswahrscheinlichkeit ab ca. 40 CAG-Repeats , Kinder von Betroffenen erkranken mit 50%iger Wahrscheinlichkeit
- 36–39 Repeats: Verminderte Penetranz, d.h. nicht alle Betroffenen erkranken , Kinder der Betroffenen haben aber eine fast 50%ige Wahrscheinlichkeit zu erkranken
- 27–35 Repeats: Betroffene Person selbst nicht erkrankt, Kinder der Betroffenen haben ca. 5% erhöhte Wahrscheinlichkeit zu erkranken
- Korrelation zwischen Genotyp und Manifestationsalter: Je mehr Triplettwiederholungen, desto früher der Krankheitsbeginn und/oder schwerer die Symptomatik
- Antizipation
- CAG-Block-Verlängerung insb. bei paternaler Vererbung [2]
- Zunehmender Schweregrad bzw. früherer Symptombeginn in aufeinanderfolgenden Generationen
Pathophysiologie
- Instabilität der CAG-repeats im Huntingtin-Gen → Verändertes Huntingtin-Protein
- Das veränderte Huntingtin scheint gewisse toxische Effekte zu haben und es kommt zu Amyloid-ähnlichen Ablagerungen, einem gestörten Glucosestoffwechsel und damit zu erhöhter Empfindlichkeit betroffener Zellen gegenüber oxidativem Stress und dem exzitatorischen Transmitter Glutamat
- Es folgt zunächst ein irreversibler Untergang von GABA-ergen Neuronen im Striatum (langfristig auch Untergang von Thalamus und Kortex)
- Der Untergang der striatalen Neurone führt zu vermehrter Hemmung des Ncl. subthalamicus, der dann hemmende Neurone im Pallidum (Pars interna) und der Substantia nigra (Pars reticulata) weniger aktiviert = es resultiert eine verminderte Hemmung des Thalamus. Dies führt zu überschießenden, unwillkürlichen Bewegungen
Symptomatik
- Initiale Symptomatik
- Psychopathologische Veränderungen: Häufig bereits vor motorischen Störungen
- Affekt- und Verhaltensstörungen, bspw. Reizbarkeit, Depression, Apathie, Zwangsstörungen [3]
- Halluzinationen, Wahn
- Beeinträchtigung kognitiver Fähigkeiten
- Hyperkinetisches choreatisches Syndrom u.a. mit
- Unwillkürlichen, unregelmäßigen, plötzlich einschießenden Bewegungen des Gesichts und der distalen Extremitäten (Grimassieren, Chamäleonzunge und Klavierspielerbewegungen)
- Ruckartiger Hyperlordosierung
- Dysarthrophonie
- Athetotischer und dystoner Komponente
- Dynamik: Beschwerdezunahme bei Stress und -abnahme bei Entspannung
- Vegetative Symptome
- Psychopathologische Veränderungen: Häufig bereits vor motorischen Störungen
- Spätere Symptomatik
- Hypo- und bradykinetische Bewegungen
- Rigidität
- Zunehmend dystone Bewegungen mit Mutismus und Blepharospasmus
- Kachexie durch Dysphagie und hohen Energieverbrauch
- Demenz
Die psychopathologischen Veränderungen gehen der hyperkinetischen Symptomatik häufig voraus: Anfänglich leichte Beeinträchtigung kognitiver Fähigkeiten und Störungen des Affektes oder der Wahrnehmung möglich, später teils aggressives, teils gleichgültiges Verhalten, zuletzt regelmäßig demenzielle Entwicklung!
Diagnostik
Basisdiagnostik
- Anamnese: Insb. Familienanamnese und Fremdanamnese
- Psychiatrische Untersuchung, u.a.
- Antrieb
- Suizidalität
- Stimmung
- Neuropsychologische Untersuchung, u.a.
- Gedächtnisfunktion
- Sprachfluss
- Exekutive Funktionen
- Neurologische Untersuchung
- Initial
- Hyperkinesien (distal betont)
- Gordon-II-Zeichen: Verzögerung bei der Beinrückstellung nach Auslösung des Patellarsehnenreflexes
- Chamäleonzunge: Zunge kann nicht ausgestreckt gehalten werden und schnellt wieder zurück
- Blicksakkaden: Verzögerte Initiierung und Verlangsamung
- Später: Dystone, verlangsamte Bewegungen (u.a. Bradydiadochokinese)
- Initial
- Internistischer Status: Allgemeinzustand, Komorbiditäten und Ausschluss von Differenzialdiagnosen
Molekulargenetische Testung
- Diagnosesicherung: Bestimmen der Anzahl der CAG-Trinukleotid-Repeats im Huntingtin-Gen (Chromosom 4p)
- Bei Patient:innen mit typischer Klinik und positiver Familienanamnese
- Prädiktive Diagnostik bei positiver Familienanamnese
- Volljährige Personen: Nach Beratung auf Wunsch möglich
- Minderjährige: I.d.R. keine prädiktive molekulargenetische Testung (da keine therapeutische Konsequenz und fehlende Einwilligungsfähigkeit)
- Durchführung: Nur von Ärzt:innen mit Facharztbezeichnung Humangenetik oder Facharzt-, Schwerpunkt- oder Zusatzbezeichnung für genetische Untersuchungen
Die prädiktive genetische Untersuchung wird i.d.R. erst nach Erreichen der Volljährigkeit durchgeführt, da keine unmittelbare therapeutische Konsequenz besteht und die Einwilligungsfähigkeit erforderlich ist!
Vor Durchführung einer molekulargenetischen Testung muss eine ausführliche humangenetische Beratung stattfinden! Betroffene können sich jederzeit auch gegen die Untersuchung bzw. Mitteilung der Ergebnisse entscheiden (Gendiagnostikgesetz, GenDG)!
Bildgebung
- Obligat: cCT/cMRT: Atrophie des Nucleus caudatus (sichtbar durch an den Vorderhörnern erweiterte Seitenventrikel), kortikale Atrophie
- Nur im Einzelfall
- FDG-PET: Störung des Glucosestoffwechsels im Striatum (frühzeitig sichtbar)
- FDG-PET-CT: Tumorsuche bei Annahme einer paraneoplastischen Genese
Labordiagnostik
- Ausführliche Labordiagnostik inkl. Liquoruntersuchung (je nach auszuschließender Differenzialdiagnose)
- Testung auf
- Schwermetalle (Quecksilber, Mangan, Thallium)
- Drogen
Differenzialdiagnosen
- Metabolisch: Hyperthyreose, M. Wilson, Hyper- und Hypoglykämie
- Medikamentös: Tardive Dyskinesien bei Antipsychotika-Gabe oder nach Ovulationshemmern
- Chorea gravidarum
- Chorea minor Sydenham
- Vaskuläre/postapoplektische/senile Chorea
- Benigne hereditäre Chorea
- Neuroakanthozytosen (bspw. Chorea-Akanthozytose, McLeod-Syndrom)
- Spinozerebelläre Ataxien
- Autoimmun und paraneoplastisch bedingte choreatische Syndrome
- Infektiöse Ursachen (bspw. HIV-Enzephalopathie, virale Enzephalitis)
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Symptomatische Therapie
- Medikamentöse Therapie
- Hyperkinesien: Tetrabenazin oder Tiaprid
- Depressive Symptome (geringe Evidenz)
- SSRI, insb. Venlafaxin
- MAO-Hemmer eher ungünstig
- Psychotische Symptome (geringe Evidenz): Antipsychotika, bspw. Haloperidol, Olanzapin, Aripiprazol, Risperidon
- Zwangsstörungen: Antidepressiva , Antipsychotika
- Schlafstörungen: Phytotherapeutika , Melatonin/Agomelatin, Mirtazapin, Chloralhydrat
- Angststörungen: SSRI
- Reizbarkeit: Stimmungsstabilisierer, Antipsychotika
- Fortwährende begleitende Allgemeinmaßnahmen
- Physio- und Ergotherapie
- Logopädie
- Ggf. Psychotherapie
- Therapieansätze in Studienerprobung
- Pridopidin
- Tiefe Hirnstimulation
Bislang gibt es keine zugelassene kausale Therapie!
Kausale Therapie
- Gentherapie: Verschiedene Medikamente zum „Gene silencing“
Prognose
- Krankheit ist konstant progredient
- Nach 15 Jahren leben noch ein Drittel der Patient:innen
- Stress beschleunigt, günstige Lebensumstände verlangsamen den Krankheitsverlauf
- Todesursachen sind häufig Ateminsuffizienz oder Aspirationspneumonie
Meditricks
In Kooperation mit Meditricks bieten wir durchdachte Merkhilfen an, mit denen du dir relevante Fakten optimal einprägen kannst. Dabei handelt es sich um animierte Videos und Erkundungsbilder, die auf AMBOSS abgestimmt oder ergänzend sind. Die Inhalte liegen meist in Lang- und Kurzfassung vor, enthalten Basis- sowie Expertenwissen und teilweise auch ein Quiz sowie eine Kurzwiederholung. Eine Übersicht aller Inhalte findest du im Kapitel „Meditricks“. Meditricks gibt es in unterschiedlichen Paketen – für genauere Informationen empfehlen wir einen Besuch im Shop.
Chorea Huntington
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Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
Chorea major Huntington
- G10: Chorea Huntington
- Inklusive: Chorea chronica progressiva hereditaria, Huntington-Krankheit
- F02.-*: Demenz bei anderenorts klassifizierten Krankheiten
Sonstige
- G25.-: Sonstige extrapyramidale Krankheiten und Bewegungsstörungen
- G25.4: Arzneimittelinduzierte Chorea
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.